Luise mochte den Geruch nach altem Papier und die Ausdünstung zarten Leders, zu denen sich eine moderig riechende Staubnote stahl, die – wie sie schon früh eingesehen hatte – unvermeidliche Ingredienz war, die sich nicht bändigen, sondern mit Lappen und Pinsel bloß zähmen ließ, so dass der Staub ein dürftiges Dasein in den dämmrigen Fluren der Bibliothek fristete.
Mehr noch als den Geruch schwerer Folianten und alter Bücher schätzte sie es, einem Unerfahrenen ihre umfassenden Kenntnisse zu vermitteln, indem sie – den Novizen im Schlepptau – wie ein Wetter erprobter Steuermann um die Riffe mit Atlanten, Lexika und Wörterbüchern steuerte und mit sicherer Hand an einem entlegenen Gestade das erfragte Buch hervor grub.
Meist genügten ihr wenige Anhaltspunkte; nannte man ihr gar Name des Verfassers oder Titel, schaffte sie das verlangte unverzüglich heran, sofern es zum Bestand gehörte, und sie es nicht an irgendwen ausgeliehen hatte. Luise war stolz auf ihr Gedächtnis, das durch die jahrelange Beschäftigung mit Büchern zu einem stattlichen Wissensbaum herangereift war.
Wäre nicht diese cremefarbene Maschine gewesen. Wenngleich man ihr erklärt hatte, dass diese Maschine mehr Wissen behalten konnte, als tausend der belesensten Bibliothekarinnen und Bibliothekare, stand für Luise fest, dass sie sich mit tausend noch so klugen Maschinen messen konnte.
Sie setzte sich lotrecht hin und schob Bleistift und Schreibblock zurecht, als ein junger Mann die Bibliothek betrat. Er blickte sich suchend um, hielt vor einem der Regale inne und neigte den Kopf, um die Titel auf den Buchrücken zu entziffern. Da er das erhoffte offenbar nicht fand, wandte er sich einem anderen Regal zu, bog abermals seinen Kopf. Er versuchte es ein drittes Mal, ehe er den Raum auf ledernen Sohlen durchmaß und vor Luises Pult stehen blieb.
«Wo bitte finde ich Methoden und Perspektiven der Archäologie des Mittelalters?»
Luise kannte das Buch. Es bereitete ihr Freude, da sie sich anstrengen musste, bis sie sich entsann, dass es gewöhnlich im dritten Seitengang des Ostflügels stand, gegenwärtig aber ausgeborgt war. Sie teilte dem jungen Mann ihre Erkenntnisse mit, der sie nur zögernd hinnahm.
«Wollen Sie nicht im Computer nachsehen, ob das Buch tatsächlich ausgeliehen ist?» fragte er.
Luise richtete sich hoheitsvoll auf. «Ich brauche nicht nachzusehen, ich weiss, dass das Buch ausgeliehen ist.»
Wenn Luise etwas erboste, dann war es, wenn man ihre Fähigkeiten in Zweifel zog. Dieser anmassende Jüngling hatte es nicht anders verdient. Sie bedeutete ihm, ihr zu folgen und durchquerte zügigen Schrittes den Raum. Im dritten Seitengang des Ostflügels zeigte sie unwillig auf die Stelle, an der das fragliche Buch normalerweise eingereiht war – und zu ihrer unsäglichen Verblüffung stand es genau an diesem Ort.
«Habe ich Ihnen nicht geraten, im Computer nachzuschauen?» triumphierte der junge Archäologe.
Luise entgegnete nichts. Verwirrt ging sie zu ihrem Pult zurück und nahm die Ausleihe vor.
Auf dem Heimweg und auch, als sie es sich zu Hause mit ihren Büchern angenehm machen wollte, nagte dieser Vorfall an ihr, so dass sie früh zu Bett ging.
Am anderen Morgen, gleich nachdem Luise die Bibliothek aufgeschlossen hatte, brachte der Archäologe das Buch zurück. Luise nahm es wortlos entgegen, ergriff einen Lappen und begann das Gehäuse der Maschine von Staub zu befreien.
«Wo finde ich Tatort Vergangenheit?» unterbrach der Bursche Luises Tun.
Diesmal brauchte sie nicht lange zu überlegen. Den Tatort hatte sie vorgestern selbst in die Buchbinderei gegeben, da sich wegen der häufigen Nutzung einige Seiten aus dem Buchblock gelöst hatten.
Der Archäologe wollte Luises Ausführungen keinen Glauben schenken. Und als er ihr auftrug, sie möge doch im Computer nachschauen, forderte sie ihn verstimmt auf, selbst nachzusehen. Der Bursche ging um das Pult herum, stellte sich neben Luise, so dass sein stechender Geruch ihre Nase kitzelte, und begann auf der Tastatur herumzutrommeln.
«Wenn das Buch restauriert wird, warum ist das hier nicht vermerkt?» fragte er und tickte mit einem trauerberandeten Finger auf den grünfarbenen Schirm.
Luise starrte fassungslos auf den Bildschirm. Sie hatte den Tatort ausgebucht, gleich nachdem der Buchbinder hier gewesen war. Und doch verrieten die eckigen Schriftzeichen, dass das Buch an seinem üblichen Standort zu finden sei.
Diesen Abend mochte sich Luise noch weniger mit ihren Büchern beschäftigen. Sie konnte sich im Lauf ihrer schlaflos durchwälzten Nacht nicht erklären, warum der Tatort nicht – wie sie hätte schwören können – beim Buchbinder war, sondern unversehrt auf seinem Platz stand.
Als der junge Mann am nächsten Tag vor ihr Pult trat, fühlte sich Luise flatterig.
«Habe Sie die Publikation Glasbarren oder Glättsteine?», fragte er.
Luise hatte noch nie von diesem Buch gehört und erkundigte sich nach dem Verfasser. Auch der Name des Autors war ihr unbekannt. So erklärte sie dem Burschen, dass das erfragte Buch nicht zum Fundus der Bibliothek gehöre. Der Archäologe verlangte, sich selbst Gewissheit zu verschaffen, trat hinter Luises Pult und bearbeitete die Tastatur der Maschine.
«Ich gehe das Buch selbst holen», sagte er, seine Augen verrieten gespieltes Mitleid.
Als er das Buch vor Luise hinlegte, damit sie die Ausleihe in die Wege leiten konnte, hatte sich die geheuchelte Anteilnahme aus seinen Zügen gestohlen und einer boshaften Grimasse Platz gemacht.
Dieser Gesichtausdruck beschäftigte Luise noch lange, nachdem der Bursche die Bibliothek verlassen hatte. Nie zuvor war sie so gedemütigt worden. Sie musste etwas unternehmen, andernfalls würde man binnen kurzem auf ihre Dienste verzichten und die Bibliothek unter das Regime der Maschine stellen.
Nachdem sie die eicherne Eingangspforte verschlossen hatte, schleppte sie einen Arm voll Bücher aus dem jüngeren Westflügel herbei, setzte sich an ihr Pult und begann im bleichen Schein der Tischlampe zu lesen.
Mitternacht verstrich mit dunklen Schlägen der unfernen Kirchglocke. Als das dritte Viertel der ersten Stunde die Stille schreckte, wagte Luise, ihre frisch erworbenen Kenntnisse an der Maschine zu erproben.
Befriedigt knipste sie das Licht aus und machte sich auf den Heimweg. Diese Nacht fiel sie in bodenlosen Schlaf und wachte heiteren Gemüts auf, obwohl sie kaum vier Stunden geschlafen hatte.
Als der junge Mann am nächsten Morgen das Buch zurückbrachte, war Luise dabei, den Boden nass aufzunehmen.
«Ich möchte Ewalds Römische Wasserleitung von Liestal nach Augst», verlangte er.
Obwohl, Luise wusste, dass das Buch weder ausgeliehen noch beim Buchbinder war, erklärte sie ihm, dass es nicht vorrätig sei. Wie sie vorausgesehen hatte, schenkte ihr der Bursche keinen Glauben und wünschte, selbst im Computer nachzuschauen.
Luise nahm Eimer und Wischmob weg und trat vom Pult zurück.
Der Mann drängte an ihr vorbei und betrat mit seinen staubbedeckten Schuhen den noch feuchten Boden.
Fasziniert beobachtete Luise wie der elektrische Schlag den jungen Mann zusammenzucken liess, wie seine Lippen und Fingernägel blau anliefen und wie er zu Boden fiel; den nicht ausgespuckten Todesschrei noch auf der Zunge.